Der eine Ton

Die folgenden Zeilen hat mir eine liebe Freundin geschickt:

 

Der eine Ton

Als Kakua, einer der frühen Zen-Weisen im Japan des 9. Jahrhunderts,

von einer Reise durch ferne Länder zurückkehrte, bat ihn der Kaiser zu sich

und trug ihm auf, alles zu berichten, was er auf seiner Reise erlebt hatte.

Kakua verneigte sich tief, schwieg lange, nahm die kleine Bambus-Flöte,

die er stets bei sich trug, aus der Tasche und spielte einen einzigen Ton,

schwieg erneut, verneigte sich noch tiefer als vorher und – ging. Der Kaiser war ratlos.

Aber er bewahrte diesen einen Ton in seinem Herzen und – so wird berichtet –

in hohem Alter fand er Erleuchtung.

(Zen)

 

Man kann diese Geschichte auch lustig erzählen. Dann spielt sie in Aserbaidschan

und handelt von einem Ehepaar, das dort vor etwa 200 Jahren lebte.

Der Mann war ein wunderbarer Chello-Spieler. Er konnte wirklich alles

was bis zu seiner Zeit für Chello geschrieben worden war virtuos spielen,

aber je älter er wurde, desto weniger spielte er und verlegte sich

immer mehr vom Viel-Spielen auf die Kultur seiner Tongebung und darauf

einen möglichst edlen Ton zu finden.

Als er nun ganz alt war, spielte er nur noch einen einzigen Ton,

den aber in einer Vollendung wie es bis dahin niemand gehört hatte.

Seiner Frau war das langweilig. Täglich stundenlang diesen einen Ton

hören zu müssen – schließlich wusste sie was für einen

wunderbaren Chello-Spieler sie geheiratet hatte.

Nun geschah es eines Tages, dass ein Orchester in diese kleine Stadt in Aserbaidschan

kam und ein Konzert gab. Die Frau war vorher schon ganz aufgeregt,

kaufte sich eine Eintrittskarte, ging ins Konzert, kam noch aufgeregter zurück

und berichtete dem Mann, „Da waren aber ganz viele Chellisten in diesem Orchester

und sie spielten viele verschiedene Töne, rauf und runter, und du spielst

immer nur den einen Ton.

Darauf der Mann: „Die suchen den Ton.“

 

Aus J. E. Berendt in

Ich höre, also bin ich – Vom Ziel allen Hörens